PATIENTEN SIND UNMÖGLICH - ..... ÄRZTE AUCH?

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Wenn die Kapazitäten fehlen, mag es sich so anfühlen. Kann Shared Decision Making beiden Seiten helfen? Bietet es darüber hinaus eine Chance auf Prozessoptimierung, eine gesteigerte Qualität der Patientenversorgung sowie Zufriedenheit auf Patienten- und Arztseite? Ein vielversprechendes Konzept hält Einzug in die klinische Praxis.

Drei geplante Entlassungen sind heute geplatzt und der Arbeitstag wiegt jetzt schon so schwer wie ein Sack Zement auf meinen Schultern. Fünf neue Patienten teilen sich in der winzigen Teeküche zwei Stühle und einen leeren Zwiebackkarton als Sitzgelegenheit. Meine Kollegin, die ich um Hilfe bitte, unterbricht ihr Diktat eines äußerst dringlichen Arztbriefes, um hysterisch zu lachen.

In Phasen hoher Arbeitsdichte wirkt ein wohlwollendes Miteinander in der Klinik als erheblicher Resilienzfaktor. Instinktiv suchen wir Verständnis und Rückhalt im unmittelbaren Kollegenkreis. Wie im Beispielszenario skizziert, können straffe Strukturen und enge Zeitpläne diese Annäherung erschweren. Einen Schritt weiter zu blicken, kann sich also lohnen, denn im Krankenhaus entdeckt man mühelos eine weitere Personengruppe, die sich nach einem ehrlichen Kontakt auf Augenhöhe sehnt – unsere Patienten.

Mit gesenktem Blick husche ich zur Teeküche und rufe einen Namen auf, ohne aufzuschauen. Eine alte Dame begibt sich im mühevollen Trippelschritt zum Untersuchungsraum. Ich laufe voran, ohne mich umzudrehen, denn meine volle Aufmerksamkeit haftet auf meinem Klemmbrett mit der aktuellen Laborchemie.

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Im klinischen Alltag stumpft das ärztliche Bewusstsein für die gesundheitlichen Vorstellungen und Sorgen der Patienten oft ab, sobald unsere Belastbarkeit überschritten ist. Doch Psychologen entwickeln Methoden, die dabei helfen können, eine Brücke zwischen Effizienz und Empathie zu schlagen: das Shared Decision Making (kurz: SDM) erlangte durch einen hohen Praxisbezug internationales Renommee. Die Anwendung dieser Methodik ist angezeigt, wenn für einen Patienten mehrere medizinisch sinnvolle Therapieoptionen zur Auswahl stehen. Mögliche Vor- und Nachteile werden unter Berücksichtigung der Patientenpräferenz gewichtet. In den Fokus der gemeinsamen Therapieentscheidung rücken dabei die Expertise und die persönliche Lebenssituation der Betroffenen. Die aktive, mündige Teilhabe des Patienten bahnt so den Weg zu einer verbesserten Compliance. Ob dieses Modell den klinischen Härtetest bestehen kann, erprobt derzeit das Universitätsklinikum Kiel, indem es in einem weltweit einmaligen Pilotprojekt, SHARE TO CARE, in allen Klinikabteilungen SDM-unterstützende Strukturen und Prozesse etabliert.

Meine Patientin starrt auf einen Punkt an der Wand, während ich leitfadengetreu die medizinischen Abläufe der bei ihr geplanten Untersuchung aufzähle. Als ich ihr im Anschluss an meine Erläuterung die Einwilligungserklärung aushändige, fragt sie mich, aus welchem Grund die Untersuchung überhaupt durchgeführt werden soll.

Neudiagnosen und komplexe Krankheitsverläufe sind für Patienten eine kognitive Herausforderung. Die Fülle an medizinischen Informationen kann nur in Einzelfällen auf Anhieb verstanden und korrekt priorisiert werden. Auf ärztlicher Seite entsteht der Eindruck, der Patient könne an der Entscheidungsfindung nicht vollumfänglich beteiligt werden, da er den Ausführungen nicht folgen kann. SHARE TO CARE fördert den Informationszuwachs auf Patientenseite durch die Entwicklung von webbasierten Tutorials. In diesen evidenzbasierten Entscheidungshilfen finden die Patienten eine laienverständliche Gegenüberstellung unterschiedlicher Behandlungsmethoden durch Texte, Tabellen, Grafiken und Videobotschaften ihrer behandelnden Ärzte oder ehemaliger Patienten mit ähnlicher Krankengeschichte. Dadurch soll die bestmögliche Vorbereitung auf die fachlichen Aspekte des Arztgesprächs gewährleistet werden, sodass ein effizienter und inhaltlich tiefgreifender Austausch zwischen Arzt und Patient entstehen kann.

Im Tagesverlauf erreicht mich ein unverblümter Anruf der Stationsschwester: meine Patientin habe die Untersuchung verweigert. In vier Wochen sei der nächste freie Termin. Wozu diese Untersuchung überhaupt gemacht werden soll, wisse sie sowieso nicht, berichtet die Stationsschwester ungerührt.

Pflegenden, MTAs und Study Nurses fällt bei SHARE TO CARE in Form des sogenannten Decision Coachings ein aktiver Part zu. Ausgewählte Inhalte aus dem Arzt- Patienten-Gespräch werden dabei aufgegriffen, um den Patientinnen und Patienten eine wiederholte, fachlich begleitete Auseinandersetzung mit der Entscheidungsfindung anzubieten. Durch den zeitlichen Versatz dieser Kontakte können neu auftretende thematische Unsicherheiten auf Patientenseite frühzeitig aufgefangen und Rückfragen an das ärztliche Personal umgelenkt werden. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsgruppen im Krankenhaus wird durch die enge Vernetzung von Medizinern und Decision Coaches gestärkt.

Ich finde meine Patientin im Bett, mitten auf dem Stationsflur abgestellt, wieder und erkundige mich, ob sie vorhin etwas nicht verstanden habe und ob es noch offene Fragen gäbe. Sie lächelt höflich und verneint.

Ein weiterer Dreh- und Angelpunkt des SHARE TO CARE Programms sind die Patienten selbst. Sie werden dazu aufgefordert, ihre passive Haltung aufzugeben und einen Dialog auf Augenhöhe mit dem Klinikpersonal einzufordern. Welche Fragen sie beispielsweise dabei stellen können, wird klinikweit auf visuellen Materialien propagiert. Die dadurch gestärkte Selbstwahrnehmung spiegelt sich in der zunehmenden Kompetenzzuschreibung auf Seiten der Behandler wider und fördert ein beidseitiges Empfinden als Team.

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Tagtäglich führe ich Aufklärungsgespräche und erkläre Laien die medizinische Welt, ohne genau zu wissen, wie man das macht. Das Halbtagesseminar zu Gesprächsführung aus dem Studium erscheint Lichtjahre entfernt von der Realität auf Station.

Bei SHARE TO CARE wird jedem Arzt durch persönliches Feedback eine Methodik an die Hand gegeben, mit der Entscheidungsgespräche strukturiert werden können. Dabei werden Videosequenzen aus dem eigenen Berufsalltag im Austausch mit Psychologen ausgewertet. Ein übergeordnetes Schema mit 6 Schritten hilft dabei, die ärztliche Selbstwirksamkeit und Effizienz im Gespräch zu steigern und die Patienten auf reproduzierbare Weise in Therapieentscheidungen einzubeziehen.

Schließlich ist es nicht der Hunger auf Tütensuppe, der mich über die Schwelle der Teeküche treibt und dazu bewegt, mich auf einem Zwiebackkarton zu den verbliebenen Patienten zu setzen. Es ist die Hoffnung auf ein Miteinander, welche den täglichen Sack Zement von meinen Schultern löst.

Wenn Shared Decision Making die Zufriedenheit sowie Compliance auf Patientenseite steigert und klinische Abläufe optimiert, werden auch die Weichen für ein zufriedenstellenderes und gelasseneres Arbeiten der Ärzte gestellt. Unnötige Mehrarbeit und Frustration können durch vom Patienten mitgetragene Entscheidungen hinsichtlich Therapie und Diagnostik reduziert werden. So können wieder vermehrt Ressourcen für eine empathische ärztliche Behandlung freigesetzt werden, in der sich Arzt und Patient gleichermaßen wertgeschätzt fühlen.

Olga Kopeleva

Können Sie sich vorstellen, Shared Decision Making auch in Ihren Arbeitsalltag zu integrieren?

Weitere Informationen erhalten Sie hier: www.uksh.de/sdm

 
Daniela Lojko